Martin Kuse, Pfarrer der Reformierten Kirche Holderbank-Möriken-Wildegg, interviewte Susanna Gysi, Freiwillige des Palliative Care-Begleitdienstes.

Liebe Susanna, du machst mit beim Palliativ Care-Begleitdienst der Landeskirchen. Wie bist du überhaupt dazu gekommen?
Meine Eltern waren beide in einer Altersinstitution. Beide sehr krank: Meine Mutter war 14 Jahre dort, halbseitig gelähmt, im Rollstuhl; mein Vater hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs und kam dann nach einiger Zeit ins Pflegheim. Meine Geschwister und ich kümmerten uns sehr um unsere Eltern, waren viel dort – und da sah ich, wie wichtig das ist, dass es für solche Menschen Begleitung gibt, dass jemand für sie Zeit und ein offenes Ohr hat.

Was ihr als Kinder für eure Eltern ja gemacht habt, das hat an anderen Orten also gefehlt.
Ja, ich habe in dieser Institution die grosse Einsamkeit mancher Menschen gesehen. Das gab mir den Anstoss, etwas Sinnvolles zu machen. Auf der Homepage des SRK sah ich dann den Lehrgang «Passage», der in Zusam­menarbeit mit der Reformierten Landeskirche dort angeboten wird. Den habe ich 2019 absolviert und 2021 noch einen Aufbaukurs in Palliative Care. So ge­höre ich inzwischen zum kantonalen Einsatzteam und ausserdem zur regio­nalen Gruppe, die sich in Niederlenz (unter Leitung der ehemaligen Pfarrerin Christina Soland) trifft.

Wie muss man sich das vor­stellen in dieser Gruppe, was macht ihr zusammen?
Von der Einsatzzentrale in Aa­rau haben wir Vorgaben: eine gewisse Anzahl Ausbildungsver­anstaltungen pro Jahr, kürzere oder längere Kurse. Ausserdem gehört zweimal jährlich eine Su­pervision dazu. In der Regional­gruppe treffen wir uns in regel­mässigen Abständen, manchmal in einer Altersinstitution in der näheren Umgebung, zum Aus­tausch und um auf uns aufmerk­sam zu machen. Auch eine Be­gegnung mit der Palliativ-Spitex hatten wir schon.

Musst du eine bestimmte Anzahl Einsätze jährlich vor­weisen?
Wer Begleitung wünscht, kann sich bei der Einsatzzentrale in Aarau melden. Von dort werden wir kontaktiert und können dann melden, ob wir im konkreten Fall zur Verfügung stehen oder nicht. Eine Mindestanforderung an Einsätzen oder Stunden gibt es nicht. Ich selbst war im vergan­genen Jahr ca. acht Mal im Einsatz über Nacht bei einer Person. Es ist aber unterschiedlich, manchmal höre ich auch zwei drei Monate nichts.

Freiwillig am Sterbebett sitzen: Martin Kuse, Pfarrer der Reformierten Kirche Holderbank-Möriken-Wildegg, interviewte Susanna Gysi, Freiwillige des Palliative Care-Begleitdienstes – Palliative Care und Begleitung

Susanna Gysi ist verheiratet und wohnt seit 14 Jahren in Möriken. Sie ist Rentnerin, arbeitete früher als Personal- und Sozialversicherungsfachfrau bei einer Bank. Mit ihrem Mann musiziert sie (Schwyzerörgeli), sie wandern und reisen gern. Sie ist seit mehreren Jahren Mitglied im Palliative Care-Begleit­dienst der Aargauer Landeskirchen. (Foto: Martin Kuse)

Man macht bei solchen Begleitungen ja für Menschen ein Beziehungs­angebot; es ist mehr als eine blosse «Verrichtung», und es kann über längere Zeit hin andauern.
Ja, das ist so. Eigentlich geht es bei der palliativen Begleitung vor allem um die Sterbephase. Aber ich hatte auch schon eine Begleitung, die fast drei Jahre dauerte. Es ist ja nicht immer im Voraus absehbar, wie sich eine Situ­ation entwickelt. Diese Person hatte eine fortschreitende Demenz, und letzt­lich konnte ich sie dann doch auch bis zum Tod begleiten; ich war sehr froh, dass ich dann wirklich in den letzten Stunden bei ihr sein durfte.

Das klingt aber für mich irgendwie doch auch fast nach einer Art Entlastungsdienst, nicht nur Sterbebegleitung.
Ich habe immer wieder mit der Zentrale Rücksprache genommen und mich entschieden, einfach dran zu bleiben. Es war ja nicht zum vornherein geplant und ist prinzipiell auch nicht so gedacht, dass wir als Entlastungsdienst fungieren – es ist schon gedacht, dass wir vor allem die Endphasen von Leben begleiten.

Wie viele Leute seid ihr in der Regionalgruppe Niederlenz?
Wir sind rund zehn Personen. Wobei manche noch berufstätig sind und dadurch weniger Gelegen­heit haben, Einsätze zu übernehmen. Wir haben inzwischen auch halbe Nachtdienste eingeführt, weil ganze Nächte schon sehr lang sind und das nicht alle machen können. Als Begleitperson schläft man nachts nicht, man ist am Bett präsent.

Ist eure Tätigkeit in Frauenhand?
In unserer Gruppe ja. Aber an kantonalen Anlässen trifft man immer wieder auch auf Männer, wenn sie auch in der Minderheit sind. Männer machen es also auch!

Und seid ihr genug Leute?
Ob wir alle angeforderten Begleitungen abdecken können, weiss ich gar nicht; wenn aus der Re­gionalgruppe niemand verfügbar ist, wird ja die kantonale Gruppe noch angefragt. Ob es immer klappt aus Sicht der Zentrale, bekommen wir gar nicht so mit. Es haben schon mehrere hundert Leute die Aargauer Ausbildung «Palliative Begleitung» besucht, aber wie viele Einsätze die ein­zelnen Leute dann leisten (können), ist sehr unterschiedlich. Die Kurse werde jedenfalls weiterhin angeboten! (Nachgelieferte Info: Für Palliative Begleitung sind aktuell rund 170 Personen tätig, da­von etwa 80 aktiv.)

Die Sterbephase eines Menschen zu begleiten, ist doch etwas sehr Besonderes. Was macht das mit Dir, was fasziniert dich daran?
Es ist eine Lebensschule, eine Bereicherung und ein Privileg. Eine enorme Erfahrung, aber auch anspruchsvoll. Man weiss nie so genau, was man antrifft. Ich gehe, schaue und höre, mache mir ein Bild. Ich lasse mich bei Erstbesuchen von der Pflege über die Situation informieren und zur Be­grüssung begleiten. So hat alles den nötigen Rahmen. Auch wenn jemand nicht mehr ansprechbar ist, empfange ich doch oft kleine Signale, die mir sagen, dass ich wahrgenommen werde. Das ist berührend und sehr schön.

Sterben ist auch etwas sehr Intimes. Kann man da überhaupt als «fremde» Person dazu­kommen?
Ich bin noch nie auf Ablehnung gestossen. Wenn ich merke, dass die letzte Stunde naht, dann neh­me ich mich oft ein wenig zurück, um den Sterbenden ihren Raum zu lassen. Oft kann sich ja eine Person nur dem Tod ergeben, wenn sie eine gewisse Ruhe hat. Und doch spüren die Sterbenden, ob jemand anwesend ist. Man ist beim Sterben oft ganz bei sich selbst, aber wenn man dennoch spüren darf, dass man nicht allein ist, kann es ein grosser Trost sein. Ich bin ja meist nicht nur beim unmittelbaren Sterben dabei, sondern gehe noch ein Stück Weg mit dem Menschen, so dass wir nicht mehr fremd sind am Ende. Das habe ich bei jener Frau, die ich über drei Jahre begleitete, besonders intensiv erlebt.

Hat Dich deine Tätigkeit als palliative Begleiterin verän­dert?
In einem gewissen Sinn schon. Ich befasse mich mit der End­lichkeit. Ich erlebe Menschen in ganz unterschiedlichen Lagen, wenn sie in dieser Endphase sind. Manche haben es leicht, manche schwer. Ich glaube ich bin heute soweit, dass ich sagen kann: Es kommt wie es kommt, und ich nehme es an. Das Thema Tod ist für mich kein rotes Tuch mehr. Ich fin­de das Thema Sterben wichtig. Wir sind alle betroffen, man sollte sich dem nicht verschlie­ssen. Es geht auch um die Fra­gen, was noch sein soll, was man noch will oder eben nicht. Ich spreche z.B. mit meinem Mann viel mehr über solche Fragen. Es ist gut, sich darüber auszutauschen.

Interview: Martin Kuse, Pfr., Reformierte Kirche Holderbank-Möriken-Wildegg

Lateinisch «pallium»: Mantel. Palliati­ve Care will nicht mehr heilen, sondern umsorgen.

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