An der Fachtagung «Andere Länder – andere Sitten» am 9. März 2023 haben palliative aargau, PalliativeSpitex Aargau und die Aargauer Landeskirchen ein Forum geschaffen, um Interkulturalität in der Palliative Care zu thematisieren. Zu den Referentinnen und Referenten gehörte unter anderem Dr. Heinz Rüegger, Zürcher Theologe und Ethiker, der während zwei Jahrzehnten im Diakoniewerk Neumünster in Zollikerberg tätig war. Im Gespräch blicken wir zurück auf sein Referat.

palliative aargau: Sie sind ins Referat eingestiegen mit der Aussage, dass Interkulturalität längst Normalität ist. Wie meinen Sie das?

Dr. Heinz Rüegger: Wenn wir von Interkulturalität sprechen, meinen wir einerseits den Aspekt unterschiedlicher Sprachen, Herkunftsländer, Religionsgemeinschaften etc. Daneben gibt es aber auch das Phänomen von unterschiedlichen Prägungen oder Kulturen innerhalb der Schweiz. Ein Innerschweizer, ländlicher Katholik mag in manchem anders geprägt sein als ein Stadtzürcher Protestant. Je nachdem, wie wir in der Schweiz sozialisiert wurden, bekommen wir eine andere Kultur mit. Diese Art der Interkulturalität gab es schon immer.

Dr. Heinz Rüegger (© 2019 Monika Stock)

Dr. Heinz Rüegger
(Foto © Monika Stock)

Bedeutet das, dass uns Interkulturalität bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist? Sind wir alle Expertinnen und Experten im Umgang mit anders sozialisierten Menschen?

In der Schweiz gibt es, zumindest in der medizin-ethischen Diskussion, eine lange Tradition, die Patientenorientierung fordert, also jeden Patienten mit seinen individuellen Wertvorstellungen ernst zu nehmen. Allerdings führen die Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte zu einer kulturellen Vielfalt im Gesundheitswesen – im Diakoniewerk Neumünster arbeiten Menschen mit Wurzeln in 55 verschiedenen Nationen – wie wir sie in dieser Dichte sonst im Alltag eher nicht antreffen.

Das heisst, im Gesundheitswesen ist der Umgang mit Interkulturalität besonders anforderungsreich?

Genau. Wegen der grossen kulturellen Vielfalt einerseits. Und andererseits wegen der hohen Verletzlichkeit der Patientinnen und Patienten. Es geht um zutiefst existentielle Fragen: leben, sterben, gesund sein, krank sein. Dazu ethische Fragen: Wann verzichtet man auf lebensverlängernde Massnahmen? Dort schwingen die kulturellen Prägungen stark mit. Da wird es als schwierig empfunden, eine gemeinsame Sprache zu finden. Auch im übertragenen Sinn.

Für einen professionellen Umgang mit unterschiedlich geprägten Patientinnen und Patienten braucht es bestimmte Fähigkeiten. Wo können wir uns diese aneignen?

Das ist eine gute Frage. Niemand von uns ist kulturell neutral. Jeder und jede ist kulturell geprägt. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen in der Palliative Care, dass man sich der eigenen kulturellen Prägung bewusst wird. Sich klar wird: «Welcher Mix kultureller Prägungen macht mich aus?» Und, ehrlich gesagt: Das lernt man so direkt in den formalen Ausbildungen nicht. Sie haben gefragt, ob wir geübt sind im Umgang mit anders sozialisierten Menschen. Ja, wir haben Erfahrung im Umgang mit Pluralismus und Interkulturalität. Zutiefst spüren, wie man selbst sozialisiert ist, kann man allerdings erst, wenn man mit Menschen im Austausch steht, die anders geprägt sind. Wenn man sich dem nicht aussetzt, nimmt man gar nicht wahr, dass die eigene Prägung nicht einfach «normal» ist.

Kann man diese Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Prägung auch als persönliche Aufgabe anschauen, ausserhalb von Aus- und Weiterbildungen?

Ja, das muss man sogar. Jeder und jede kann sich Fragen stellen wie: Wie entscheide ich für mich selbst: autonom, unabhängig davon wie andere denken – oder zusammen mit anderen, als gemeinsamer Entscheid? Wie kommuniziere ich: direkt, klar heraus – oder zurückhaltend, vielleicht indirekt, um niemanden zu verletzen? Orientiere ich mich an kulturellen oder religiösen Traditionen, Autoritäten und Institutionen – oder nur an dem, was mir einleuchtet? Traue ich mir zu, selber über mein Leben und Sterben zu bestimmen, oder schiebe ich diese Verantwortung anderen (Ärzten, Gott, sonstigen Autoritätspersonen) zu?

Welche weiteren Entwicklungen wünschen Sie sich in Bezug auf Interkulturelle Palliative Care?

Wir müssen mehr darüber reden! Einerseits in den formalen Ausbildungsgängen, sowohl bei Ärzten als auch bei Pflegenden, bei Sozialarbeitenden oder Seelsorgenden. Das ist da eine. Und andererseits am Arbeitsplatz im Team. Dass man die Chance nutzt, welche interkulturelle Teams bieten. Dass wir in Team-Besprechungen Kolleginnen und Kollegen ansprechen: «Wie nimmst du das jetzt wahr? Warum wertest du die Situation so? Wie findest du, kann man auf diese Situation adäquat reagieren?». Und dass man sich selbst reflektiert: «Nehme ich das auch so wahr? Stimme ich überein?» So kommt man ins Gespräch und kann innerhalb der Institution einen gemeinsamen, kultursensiblen Umgang entwickeln.

Vielen Dank für das Gespräch!

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