Ein Vortrag der nicht nur das Wissen erweiterte, sondern als Ermutigung die Bewusstheit des eigenen Lebens und Sterbens berührte.
Die Reformierte Landeskirche Aargau lud am 11. September 2013 zum öffentlichen Themenabend mit Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliative Medizin in Lausanne und Chefarzt für Palliative Medizin am Universitätsspital Lausanne, ein. Dies geschah im Rahmen der Ausbildung in Palliative und Spiritual Care, einem interdisziplinären Lehrgang für Fachpersonen und Freiwillige. Das Echo war unerwartet gross. Doppelreihig standen die über 500 Interessierten im überfüllten Kultur- und Kongresszentrum Aarau den Wänden entlang, sassen auf den Treppen, ja selbst auf der Bühne zu Füssen des Dozenten.
Psychosoziale, spirituelle und seelsorgliche Begleitung als Schwerpunkt
In einem packenden Vortrag wusste der international bekannte Palliative Mediziner die Zuhörenden ohne PowerPoint dafür mit viel Humor, präzisen Analysen über das Sterben sowie Zitaten aus Philosophie, Theologie und Poesie zu fesseln. Der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für palliative Medizin in der Schweiz wurde im Rahmen der interdisziplinären Lehrgänge in Palliative und Spiritual Care der Reformierten Landeskirche Aargau, von der Ausbildungsleiterin, Pfarrerin Dr. theol. Karin Tschanz, nach Aarau eingeladen. Diese Lehrgänge haben, laut Borasio, europäisches Format. Zudem sind sie ab nächstem Jahr ein integrierter Bestandteil eines nationalen Lehrgangs. Borasio und Tschanz, Co-Vizepräsidentin Vorstand von palliative ch, engagieren sich gemeinsam auf nationaler Ebene für palliative Medizin, Pflege und Begleitung. Er bedankte sich bei der Reformierten Landeskirche Aargau dafür, dass sie den in der medizinischen Versorgung eher unterbelichteten Schwerpunkt der psychosozialen und spirituellen Begleitung ernst nimmt. Ein Angebot, das – ohne die Leistung der Medizin zu schmälern – 50% der Verantwortung am leidenden und sterbenden Menschen ausmacht.
Die eigene Vergänglichkeit akzeptieren
Er forderte die Anwesenden auf, sich den eigenen Tod vorzustellen als sofortiges Todsein, als mittelschneller Tod (3 Jahre) und als langsamer Tod bis hin zur Demenz. Die dritte Möglichkeit werde immer realistischer, persönlich oder im nahen Umkreis erlebbar, und die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit sei heute offensichtlich.
Auch der Wunsch, zu Hause in der Familiengemeinschaft zu sterben, lasse sich beim alten Menschen nicht mehr einfach verwirklichen; nur bei 10 bis 20% der Menschen sei dies erfüllbar. Heute habe man die eigenen erwachsenen Kinder nicht mehr, man müssen sie zur Pflege günstig aus dem Osten holen. Wer sich aber dieser Aufgabe stellt, erfährt selbst eine Bewusstseinserweiterung in die Vergänglichkeit des eigenen Lebens. Borasio betonte aus Erfahrung mit Menschen, die er begleitet: «Es ist eine einmalige Chance, von den Sterbenden das Leben zu lernen.» Anhand von Beispielen schilderte er die oft radikalen Veränderungen in der Lebensperspektive von Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden. Plötzlich ist die Zeit begrenzt, auch für jeden von uns. Deshalb ist eine der wichtigsten Botschaften von Spiritual Care: «Wenn wir unsere Vergänglichkeit akzeptieren, wenn wir unsere Anhaftung an den Dingen, so wie sie sind, loslassen, dann öffnen wir uns zur Gnade.»
Anhand einer wissenschaftlichen Studie zeigte Borasio auf, wie die beiden Werte Gesundheit und liebende Familiengemeinschaft uns Menschen am Lebensende beeinflussen. Wer die eigene Gesundheit als oberstes Ziel (Ego) wählt, hat 53% erfüllte Lebensqualität in einer schwerkranken Situation oder im Sterben aufzuweisen, 100% hat derjenige, der liebt und geliebt wird (Altruismus als gesunder Egoismus). Christliche Nächstenliebe, so der Palliativmediziner, ist immer eine Verbesserung der Lebensqualität. Diese Erkenntnis, dieser spirituelle Blick gehört zum Leben und erleichtert das Sterben.
Empathisches Zuhören gefragt
Die moderne Palliative Care bietet viel mehr als Morphium und Händchen halten. Sie ist der High Tech auf medizinischem Gebiet gleichwertig und muss daher im Medizinstudium dringend als Pflichtfach eingeführt werden. Unsere Gesellschaft braucht zuhörende, empathische Ärzte und Pflegende, die sich die Frage stellen: «Ist alles sinnvoll, nur weil es machbar ist?» Allen, die wir heute hier sind, so Borasio, gilt die Ermahnung, welche zugleich Hoffnung ist: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden» Psalm 90. Wer schwerkranke Kinder begleitet erfährt oft, was wir Erwachsenen verlernt haben und worauf bereits Jesus hingewiesen hat: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…». Sie erleben den Schmerz, die Angst, den nahen Tod und im nächsten Augenblick sind sie fähig, sich fröhlich ins Spiel zu vertiefen: Leben im geschenkten Augenblick! Mit Rosen und einem Buch zu hoffnungsorientierter Seelsorge bedankte sich Karin Tschanz bei Professor Borasio. Sie schloss mit dem Wunsch, sich gemeinsam der Herausforderung zu stellen, Menschen im Sterben gut zu betreuen und zu begleiten, was nur mit vereinten Kräften gelingt und dankte allen, die sich in Palliative und Spiritual Care einbringen, damit in unserer Welt «mehr geliebt, getröstet und gesegnet wird.»
Medienmitteilung der Reformierten Landeskirche Aargau vom Donnerstag, 12. September 2013
ria / Elisabeth Kemmler